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Warum gibt es Hunger in Syrien?

Um die Auswirkungen der Syrien-Sanktionen auf die Bevölkerung in Syrien richtig einzuordnen, muss man nach einem Gesamtbild und nach den Ursachen für die gegenwärtige Hungerkrise fragen: Nach einem aktuellen Beitrag von Human Rights Watch zwingt vor allem das Versagen der syrischen Regierung, angemessen auf die gegenwärtige Brotkrise zu reagieren, die Menschen dazu zu hungern. Der Absturz der syrischen Währung, eine sich verschärfende Wirtschaftskrise nach zehn Jahren Krieg, verbunden mit der erheblichen Zerstörung der Infrastruktur - vor allem durch die syrische Regierung und ihre Verbündeten selbst - hat zu einem katastrophalen Mangel an Weizen geführt.

 

Die syrische Regierung hat die Krise noch zusätzlich durch Diskriminierung bei der Brotverteilung verschärft. Dazu kommen die weit verbreitete Korruption und die Rationalisierung und Verknappung der subventionierten Portionen. Das alles zusammen führt dazu, dass die Menschen in Syrien hungern. Obwohl die von den USA und der EU verhängten Sanktionen gegen das Assad-Regime Medizin und Lebensmittel ausdrücklich ausklammern, haben sie unbestritten auch negative Folgen. Jedoch lohnt sich in dieser Hinsicht ein ausführlicher Blick auf die Hintergründe der Wirtschafts- und Hungerkrise.

 

Wie ist die aktuelle Situation in Syrien?

Laut dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) hatten im Februar 2021 mindestens 12,4 Millionen Syrer von einer geschätzten Bevölkerung von rund 16 Millionen Menschen keinen ausreichenden Zugang zu Nahrungsmitteln, was einem alarmierenden Anstieg von 3,1 Millionen in einem Jahr entspricht. Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) und das World Food Programm (WFP) schätzen, dass 46 Prozent der syrischen Haushalte ihre täglichen Lebensmittelrationen gekürzt haben und 38 Prozent der Erwachsenen ihren Verbrauch reduziert haben, um sicherzustellen, dass ihre Kinder genug zu essen haben. Mehr als 80 Prozent der Syrer leben unter der Armutsgrenze, und für 40 Prozent der Haushalte entfallen laut UN 65 Prozent der Ausgaben auf Lebensmittel. Dazu kommen staatliche Beschränkungen für die Menge des verfügbaren subventionierten Brotes - maximal vier Pakete für eine Familie mit sieben oder mehr Personen und ein Paket für eine Familie mit zwei Personen. (HRW 2021)

 

Das wenige in öffentlichen Bäckereien vorhandene von der Regierung subventionierte Brot wird mit zunehmendem Alter fast ungenießbar und schwarz und ist mit Linsen oder Gerste vermischt und allgemein von schlechter Qualität. Trotz Verlautbarungen der Regierungsmedien, dass die Türkei Weizen nach Syrien liefern wird - Berichten zufolge durch einen von Russland vermittelten Deal, Weizen im Rahmen eines Millionen-Tonnen-Deals aus Russland zu importieren - wirken sich die reale Regierungspolitik und die weit verbreitete Korruption unmittelbar auf die Chancen der Familien aus, überhaupt Brot zu bekommen. Auf der anderen Seite gibt es überall Brot in guter Qualität zu kaufen: Auf dem Markt und auch auf dem Schwarzmarkt zu horrenden Preisen, die sich nur wohlhabende Familien noch leisten können. (HRW 2021)

 

Was sind die Ursache für die Brotkrise?

Brot ist in Syrien seit langem ein Grundnahrungsmittel. Vor 2011 produzierte das Land genug Weizen, um den eigenen Bedarf zu decken. Insbesondere Menschen mit niedrigem Einkommen waren in der Regel auf Brot als günstiges und sättigendes Grundnahrungsmittel angewiesen. Der bewaffnete Konflikt führte jedoch zu einem Rückgang der heimischen Weizenproduktion und trieb gleichzeitig Millionen in die Armut, wodurch sie hinsichtlich ihrer Ernährung noch stärker auf Brot angewiesen sind. (HRW 2021)

 

Syrien verlor zwischen 2010 und 2018 ca. 943.000 Hektar Ackerland aufgrund von Militäreinsätzen, der Vertreibung von Landwirten und Landarbeitern, Misswirtschaft staatlicher Ressourcen und konfliktbedingten Kosten und der immer wieder wechselnden Herrschaft und Kontrolle über das Land. Ein Teil des Verlustes ist auf Luftangriffe des syrisch-russischen Militärbündnisses zurückzuführen, die 2015 eskalierten und in einigen Fällen zu offensichtlichen Kriegsverbrechen führten. Angriffe zerstörten nicht nur das Ackerland, sondern auch zahlreiche Bäckereien in Gebieten, die damals unter der Kontrolle der Opposition standen. (HRW 2021)

 

Vor 2011 war Syrien in der Weizenproduktion autark und lag im Durchschnitt bei 3,5 bis 4,1 Millionen Tonnen pro Jahr. Der in Syrien angebaute Weizen ist stark von Wasser abhängig. Angriffe auf nutzbares Land, Vertreibungen sowie wechselnde Kontrolle über die Gebiete durch die Konfliktparteien, sowie die Zerstörung der Infrastruktur haben die Weizenmenge, die Syrien produzieren kann, mehr als halbiert, was zu einer starken Abhängigkeit von Weizenimporten geführt hat. (HRW 2021)

 

Im letzten Jahr war die syrische Regierung mit großen Hindernissen beim Kauf und Import von Weizen konfrontiert, sowohl von außerhalb als auch aus syrischen Gebieten unter kurdischer Kontrolle, in denen insgesamt der größte Teil des landwirtschaftlich genutzten Landes liegt. Die starke Abwertung der syrischen Währung, die libanesische Finanzkrise und die wachsenden Befürchtungen hinsichtlich der neuen US-Sanktionen, wirkte sich auf die Kaufkraft im ganzen Land aus. Die Kapitalkontrollen der libanesischen Banken verhinderten, dass syrische Geschäftsleute, einschließlich Zwischenhändler der Regierung bei der Beschaffung von Weizen, Zugang zu Geldern bei libanesischen Banken erhielten. Darüber hinaus hat Russland als Hauptverbündeter und Hauptlieferant von importiertem Weizen, seine Weizenexporte nach Syrien eingeschränkt. Einseitige US-Sanktionen könnten sich ebenfalls indirekt auf die Krise ausgewirkt haben, da sie Einfluss auf die Währungsabwertung und die Lieferung von Kraftstoff haben. (HRW 2021)

 

Im Jahr 2020 wurden 72 Prozent des syrischen Weizens in Gebieten angebaut, die derzeit von kurdisch geführten Behörden gehalten werden. Durch Handelskonkurrenz zwischen der syrischen Regierung und kurdisch geführten Behörden stand für die Regierung am Ende weniger Weizen zur Verfügung, zumal die meisten Landwirte lieber vor Ort verkaufen. Im Jahr 2020 zerstörten Erntebrände rund 35.000 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche unter der Kontrolle der Regierung und verschärften die Krise weiter. (HRW 2021)

 

Am 24. Februar 2021 versorgte die Türkei die syrische Regierung im Rahmen eines von Russland vermittelten Abkommens mit Weizen. Russland ist der zweitgrößte Weizenexporteur der Welt und war bisher Syriens wichtigste Weizenquelle. Von Mitte 2019 bis Februar 2021 war die syrische Regierung wegen Finanzierungsproblemen oft jedoch nicht in der Lage, Weizen von außen zu beschaffen. Bei den syrischen Ausschreibungen für Weizen in den Jahren 2019 und 2020 wurde hauptsächlich Weizen aus russischer Produktion angefordert. Die von der russischen Regierung auferlegten Beschränkungen des Weizenverkaufs während der Covid-19-Pandemie haben es den Ländern jedoch schwer gemacht, Weizen von Russland tatsächlich zu beschaffen. Russland kündigte im April 2020 eine Begrenzung der Ausfuhr von Weizen und anderem Getreide in andere Länder auf 7 Millionen Tonnen an und verlängerte diese Beschränkungen im November. (HRW 2021)

 

Worum es sich bei den Finanzierungsproblemen handelt ist klar: Von Oktober bis November 2019 begann der Wert des syrischen Pfunds (SYP) erheblich zu fallen. Der Wechselkurs fiel von rund 600 SYP für den US-Dollar auf rund 900 SYP, was auf verschiedene Faktoren zurückzuführen war, darunter die libanesische Wirtschaftskrise, aber auch Befürchtungen bezüglich der angekündigten US-amerikanischen Caesar-Sanktionen. (HRW 2021)

 

Human Rights Watch zufolge sagen Experten, dass der syrischen Regierung bereits seit Beginn des Konflikts Sanktionen auferlegt wurden, die von Banken im Libanon im Oktober 2019 verhängten Kapitalkontrollen jedoch dazu geführt hatten, dass syrische Geschäftsleute nun nicht mehr auf ihre Konten bei libanesischen Banken zugreifen konnten. Dies wirkte sich dann wiederum darauf aus, Fremdwährungen in das Land zu bringen, was wiederum die Devisenreserven schwinden ließ und somit die Fähigkeit der Regierung stark einschränkte, Lebensmittel wie Weizen zu importieren. (HRW 2021)

 

Interessant ist hier ein Blick auf die Propaganda, die das syrische Regime selbst macht: In einer Rede von November 2020 sagte Bashar al-Assad, dass die Milliarden von Dollar, die aktuell in den Banken des Libanon festgesetzt sind, die Hauptursache für die sich verschärfende Wirtschaftskrise in Syrien sind. Die Krise begann Assad zu Folge bereits vor dem Caesar Act und erst Jahre nach den ersten verhängten westlichen Sanktionen. Schuld sei das Geld in den libanesischen Banken, das verloren gegangen sei. Die Coronavirus-Pandemie habe das syrische Pfund dann weiter abgewertet. (HRW 2021)

 

Im März 2021 befindet sich das syrische Pfund auf einem Allzeittief von 4.300 SYP gegenüber dem Dollar. Die Währungsabwertung erhöht allgemein die Kosten für Importe wie Weizen, Kraftstoff und Düngemittel sowie Maschinen für die Weizen- und Brotproduktion. Die Kraftstoffkrise in Syrien, die durch dieselben Faktoren verursacht wurde, aber direkter von den Sanktionen betroffen war, trug ebenfalls zu einem Anstieg der Weizenpreise bei, da die Produktion von Dieselkraftstoff abhängt. (HRW 2021)

 

Herausragend sind allerdings die kriegsbedingten Zerstörungen: Seit Beginn des Konflikts haben die syrischen Streitkräfte und später das syrisch-russische Militärbündnis Bäckereien und Backöfen in mehreren Gebieten systematisch zerstört, darunter in Teilen von Homs, Aleppo und auf dem Land rund um Damaskus. Das syrisch-russische Militärbündnis hat auch Ackerland angegriffen, zuletzt 2019 im Gouvernement Idlib. (HRW 2021)

 

Was macht das Regime von Baschar al-Assad?

Die syrische Regierung liefert subventioniertes Mehl und Treibstoff an öffentliche Bäckereien, die dann wiederum subventioniertes Brot verkaufen. Im September kündigte die staatliche Nachrichtenagentur Syriens, SANA, eine neue Begrenzung der Menge an staatlich subventioniertem Brot an, das die Menschen je nach Familiengröße kaufen können. Im Oktober verdoppelte die syrische Regierung den Preis für das subventionierte Brot. Immer wieder kommt es zu Berichten über die diskriminierende Verteilung. In einigen Gebieten gibt es getrennte Warteschlangen für das Militär- und Sicherheitspersonal, für Anwohner und für Vertriebene, welche dann die niedrigste Priorität haben.

 

Syrische Sicherheitsdienste stören die Verteilung von Brot und Weizen und konfiszieren Brot aus Bäckereien für den Verkauf auf dem Schwarzmarkt. Obwohl die syrische Regierung den nicht akkreditierten Bäckereien den Verkauf von subventioniertem Brot verboten hat und ein Vorgehen gegen Schwarzmarktverkäufe ankündigte, spielen die syrischen Sicherheitsdienste eine Schlüsselrolle beim Abschöpfen von Brot- und Weizenverkäufen. Mitglieder des syrischen Sicherheitsdienstes nehmen einen Teil des Brotes von den Paketen und verkaufen es auf dem Schwarzmarkt für mehr als das Doppelte des Preises.(HRW 2021)

 

Im April 2019 verabschiedete Syrien ein Gesetz, das drei öffentliche Einrichtungen für den Handel und die Produktion von Getreide, die Verwaltung von Silos und Mühlen zu einer neuen staatlichen Einrichtung mit dem Namen "Huboob" zusammenführte, was auf Arabisch „Getreide“ bedeutet. Diese trägt nun die Hauptverantwortung für den Import und den Vertrieb von Weizen und Weizenprodukten. Im Oktober 2020 gab der Chef von Huboob bekannt, dass es genug Weizen für alle Bäckereien in Syrien gäbe, um Brot im Rahmen ihrer Kapazitäten zu produzieren. Einwohner von Regierungsgebieten, darunter Damaskus und Aleppo, berichten Human Rights Watch zu Folge jedoch, dass das verfügbare Brot von schlechter Qualität und fast ungenießbar sei. (HRW 2021)

 

Entgegen den offiziellen Verlautbarungen sind bisher nur ein Bruchteil der durch den Krieg und damit meist durch das Regime selbst zerstörten Bäckereien wieder instand gesetzt worden. Menschen müssen weite Entfernungen zurückliegen, um an Lebensmittel zu kommen. Das Welternährungsprogramm (WFP), die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und andere humanitäre Organisationen haben Projekte zur Reparatur von Bäckereien übernommen. Die von Human Rights Watch befragten Helfer und Einwohner gaben jedoch an, dass die Projekte nicht auf einer umfassenden Bedarfsanalyse beruhen und in einigen Bereichen, in denen die Krise akut ist, überhaupt keine Öfen und Bäckereien repariert wurden. Die syrische Regierung gäbe den Teams zwar Listen mit Bäckereien, die instandgesetzt werden sollen, die Hilfsorganisationen hätten jedoch keine Möglichkeit, den Bedarf im gesamten von der Regierung gehaltenen Gebiet zu ermitteln. Die Regierung weist die humanitären Organisationen an, Bäckereien und Lebensmittelverteilung entsprechend den politischen Zugehörigkeiten der betreffenden Wohngebiete zu reparieren, anstatt auf der Grundlage des tatsächlichen Bedarfs. (HRW 2021)

 

Sind die Sanktionen Schuld an der Wirtschaftskrise?

Der Bericht von Human Rights Watch deckt sich mit der Einschätzung auch anderer renommierter zu Syrien arbeitender Menschenrechtsorganisationen. In seinem im Januar 2021 erschienenen Jahresbericht schreibt z.B. das Syrian Network for Human Rights (SNHR) ganz klar, dass die Syrien-Sanktionen zweifellos negative Auswirkungen auf die Bevölkerung in Syrien haben. Jedoch stehen diese in keinem Verhältnis zu den Faktoren, die unmittelbar vom Regime selbst verschuldet sind. Anders als das Regime, das die Verantwortung für den Verfall der syrischen Währung und den rasanten Preisanstieg für Grundnahrungsmittel auf die Sanktionen schiebt, benennt das SNHR konkrete Ursachen für die gegenwärtige Wirtschaftskatastrophe: 

  • Die Zerstörung ganzer Siedlungsgebiete samt lebensnotwendiger Infrastruktur durch gezielte Luftangriffe und andauernde Faßbombenabwürfe.
  • Die Vertreibung von 13 Millionen Menschen und damit dringend benötigter Arbeitskräfte, Techniker, Fachkräfte und Geschäftsleute etc., welche das Herz der syrischen Wirtschaft sind. Diese sind hauptsächlich wegen der Zerstörungen ihrer Häuser und Arbeitsstätten, drohender Haft, Folter oder gewaltsamer Rekrutierung in die Armee geflohen.
  • Das Austrocknen der Staatsressourcen und Geldreserven für die militärische Bekämpfung des Aufstandes und die Verhinderung eines politischen Wandels koste es was es wolle.
  • Die durch die Bankenkrise angeschlagenen libanesischen Banken, welche für Geschäftswelt und Regime bislang das Tor zur Welt waren und welche bis dato den Zahlungsverkehr und Handel aufrecht gehalten hatten.
  • Diverse Faktoren, wie die COViD-19-Pandemie, die Sanktionen gegen den Iran, die tief verwurzelte Korruption in den Regime-Institutionen und der offen ausgebrochene Familienstreit zwischen dem Regime und dem Assad-Cousin und Wirtschafts-Oligarchen Rahmi Mahklouf.  
  • Letztlich die Weigerung des Regimes, die massiven Menschenrechtsverbrechen zu stoppen, zehntausende politische Gefangene frei zu lassen und den Weg frei zu machen für einen politischen Übergang, der die Aufhebung der Sanktionen und damit auch einen Wirtschaftsaufschwung möglich machen würde. 

Ungeachtet der Sanktionen und der andauernden Wirtschaftskrise gibt das Regime nach wie vor erhebliche Ressourcen aus dem Staatshaushalt für Repräsentationsbauten, wie dem “Golden Knight Basil al-Assad” - Museum in der al-Assad Sports City in Latakia aus. (SNHR 2021, 26ff)

 

Quellen

HRW 2021: Human Rights Watch. (2021, 22. März). "Syria: Bread Crisis Exposes Government Failure". Abgerufen am 25.03.2021 von: https://www.hrw.org/news/2021/03/21/syria-bread-crisis-exposes-government-failure

 

SNHR 2021: The Syrian Network for Human Rights (SNHR). „The Bleeding Decate - Tenth Annual Report: The Most Notable Human Rights Violations in Syria in 2020“. www.sn4hr.org, 26. Januar 2021, abgerufen am 25.03.2021 von:

www.sn4hr.org/wp-content/pdf/english/Tenth_Annual_Report_The_Most_Notable_Human_Rights_Violations_in_Syria_in_2020_en.pdf

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