
Das Erdbeben in der Türkei und Syrien ist eine der schlimmsten humanitären Katastrophen der Gegenwart. Das Leid der Menschen ist mit Worten kaum zu beschreiben. Denn das Erdbeben ereignete sich in einem Gebiet, das ohnehin vom einem jahrelangen Krieg gezeichnet ist, der auch trotz des Bebens weitergeht. Humanitäre Hilfe wird in diesem Kontext stark politisiert. Das Assad-Regime in Damaskus nutzt die Gelegenheit und fordert die "Aufhebung der Sanktionen". Über langjährig erprobte Kanäle drängt sich zunehmend die Erzählung, "die Sanktionen des Westens verhindern humanitäre Hilfe" in die Berichterstattung und Debatte in Deutschland. In den sozialen Medien wird dieses Narrativ massiv verbreitet.
Deshalb ist es enorm Wichtig, zwischen den Zeilen zu lesen und die Aussagen genau zu sortieren. Wer spricht für wen auf Grundlage welcher Quelle? Spannend bei diesen Stellungnahmen ist vor allem das, was nicht gesagt wird. Zur Einordnung von Aussagen über die Syrien-Sanktionen eignen sich ein paar grundlegende Leitfragen als Prüfsteine: Fehlen hier folgende Informationen, dann ist es ein sicherer Hinweis darauf, dass es sich um Propaganda handelt.
Prüfstein 1: Wird überhaupt erwähnt, dass Humanitäre Hilfe gar nicht auf der Sanktionsliste steht?
Das beste Beispiel für Manipulation durch Weglassen ist die Presseerklärung der Fraktion der Linkspartei im Bundestag vom 8. Februar 2023: Unter dem Titel "Sanktionen gegen syrische Erdbebenopfer aufheben" (!) behauptet die Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen, die Syrien-Sanktionen würden als einseitige Strafmaßnahmen die Nothilfe für die Erdbebenopfer blockieren und die Entsendung von Hilfskonvois verhindern. Das ist schlicht und einfach gelogen. Denn Humanitäre Hilfe wird überhaut nicht sanktioniert. Die USA und die EU haben insbesondere seit der blutigen Niederschlagung des Arabischen Frühlings 2011 Sanktionen gegen das Assad-Regime erlassen. Was genau z.B. von Europäischer Seite aus sanktioniert wird, ist jederzeit im Internet einsehbar, gut übersichtlich z.B. bei der österreichischen Wirtschaftskammer. Humanitäre Hilfe, Medizin und Nahrungsmittel fallen definitiv nicht darunter.
Prüfstein 2: Wird erwähnt, warum "die" Sanktionen überhaupt eingerichtet wurden und gegen wen und was genau sie sich richten?
Die Syrien-Sanktionen sind vieles, aber mit Sicherheit kein allumfassendes Embargo gegen das Land und seine Bevölkerung. Es handelt sich um unilaterale Sanktionen, die nicht von der UN Sanktioniert sind, sondern von westlichen Staaten der EU, Groß Britannien und den Vereinigten Staaten verhängt worden sind. Zu unterscheiden sind da grob die
- Sanktionen der EU
- Sanktionen der USA (z.B. Caesar Act)
Man kann die Sanktionen auch nach ihrem Wirkungsbereich unterscheiden. Hier gibt es die
- Sanktionen gegen Einzelpersonen, z.B. das Einfrieren von Vermögen und Reisebeschränkungen. Sie werden verhängt gegen Regimeangehörige, die im Zusammenhang mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit stehen.
- Sanktionen gegen Wirtschaftssektoren, z.B. Ausführbeschränkungen im Bereich der Waffentechnologie, Überwachungstechnik aber auch Energiewirtschaft.
- Sanktionen gegen Dritte von Seiten der USA (Caesar Act). Hierbei werden weltweit alle Akteure sanktioniert, bei denen sich herausstellt, dass sie Geschäfte mit Regimeangehörigen in einem der oben genannten Bereiche machen.
Hinsichtlich alle dieser Sanktionen gibt es weitreichende Ausnahmen. Zudem kann das Regime außerhalb der Oben genannten Kriterien weltweit Handel treiben. Auch wenn es zahlreiche Beschränkungen im Bankensektor meist gegen syrische Staatsbanken gibt, ist der Zahlungsverkehr über Privatbanken erschwert, aber grundsätzlich möglich.
Richtig ist, dass Hilfsorganisationen immer wieder über Probleme mit der Abwicklung von Projekten klagen, die mit Syrien zu tun haben. Auch Privatleute haben Schwierigkeiten, Geld in das Land zu überweisen, das manchmal dringend benötigt wird. Das liegt - und das ist hier der entscheidende Punkt - aber nicht an den Sanktionen selbst, sondern kurz gesagt an der Psychologie: Banken verhalten sich aus Angst, gegen Sanktionen verstoßen zu können, übervorsichtig und wählen eine Strategie der Übererfüllung (overcompliance) oder lassen sich auf Aktivitäten im Zusammenhang mit Syrien gar nicht erst ein. Dieses führt zu einem "chilling-effect" und kann tatsächlich Hilfe ausbremsen. Unmittelbar nach der Erdbebenkatastrophe war es z.B. zeitweilig schwierig, über die Crowdfunding-Plattform GoFundMe Geld nach Syrien zu senden.
Prüfstein 3: Wird erwähnt, dass die Sanktionen jederzeit aufgehoben werden können, wenn Assad fundamentale Bedingungen erfüllt?
Die Sanktionen können jederzeit aufgehoben werden, wenn das das Assad-Regime den Krieg gegen die eigene Bevölkerung und seine fortwährenden Menschenrechtsverstöße einstellt. Ziel der Sanktionen ist der Schutz der Menschen vor der Gewalt des Regimes. Das Regime hat jahrelang friedliche Demonstrationen niedergeschossen, weit über hunderttausend Menschen in Foltergefängnissen verschwinden lassen, Städte u.a. auch mit Giftgas bombardiert, Oppositionsgebiete ausgehungert und gezielt Krankenhäuser und zivile Einrichtungen zerstört. Wenn das Regime diese Verbrechen einstellt, sich der Rechenschaftspflicht stellt und den Weg für einen politischen Übergang frei macht, dann steht der Weg für eine Aufhebung der Sanktionen offen. Wer lediglich eine Aufhebung der Sanktionen fordert, ohne Assad in die Pflicht zu nehmen, möchte von den Verbrechen des Regimes ablenken und Assad rehabilitieren.
Prüfstein 4: Wird erwähnt, dass die Hauptursache für die Situation in Syrien das Assad-Regime ist?
Auch wenn die Sanktionen in der Praxis tatsächlich den Handel mit Syrien und damit die Versorgung in Syrien in vieler Hinsicht erschweren, sind sie bei weitem nicht die Hauptursache für die Armut im Land. Der Krieg, den das Regime selbst 2011 mit der gewaltsamen Niederschlagung der zunächst lange Zeit friedlichen Proteste begonnen hat, hat Syrien zu einem "failed state" gemacht. Städte und Infrastruktur sind zerstört, Arbeitskräfte sind tot oder geflüchtet, die Inflation ist in astronomische Höhen geklettert und zudem ist das Bankenwesen im benachbarten Libanon eingebrochen, über das Syrien oft Geschäfte abgewickelt hatte. In Syrien regiert die Korruption und eine regime-loyale mafiöse Kriegswirtschaft. Die Sanktionen erschweren die Situation zusätzlich. Wer aber die anderen Faktoren ausklammert, möchte das Regime rehabilitieren.
Prüfstein 5: Wird erwähnt, dass das Assad-Regime seit Jahren Hunger als Waffe einsetzte und Humanitäre Hilfe missbraucht?
Wer so vollmundig wie Sevim Dagdelen die Syrien-Sanktionen mit humanitärer Hilfe in Verbindung bringt und der Bundesaußenministerin vorwirft, die Notlage der Menschen für "geopolitische Zwecke" zu missbrauchen, lenkt vom Regime als Haupt-Täter in Syrien ab. Der Grund, warum westliche Staaten zögern, in der Erdbebenkatastrophe sofort direkt dem Regime in Damaskus zusammenzuarbeiten, hat nichts mit den Sanktionen zu tun. Das Regime missbraucht das von den UN installierte System internationale Hilfe für Syrien seit Jahren und benutzt Hunger als Waffe. Es hat mit seiner surrender-or-starve-Strategie jahrelang ganz gezielt oppositionelle Gebiete ausgehungert und Hilfe vorenthalten. Wer das unterschlägt, und die Sanktionen für die Situationen verantwortlich macht, betreibt Regime-Propaganda.
Prüfstein 6: Wird erwähnt, dass die Forderung nach einer "Aufhebung der Sanktionen" nicht alternativlos ist, sondern Expertinnen und Experten statt dessen meist eine strikte Evaluation und Verbesserung der Sanktionen fordern?
Manche Beiträge, die eine Aufhebung der Sanktionen gegen das Assad-Regime in Damaskus fordern, berufen sich auf Kronzeugen, die auf den ersten Blick als vertrauenswürdig erscheinen. Das sind vor allem:
- Die Sonderbeauftragte der UN für die negativen Auswirkungen der unilateralen Sanktionen, Alena Douhan
- Netzwerke christlicher Kirchen und deren Hilfswerke, wie die Caritas
- Der Syrische Rote Halbmond als Vertreter des internationalen Roten Kreuzes
Bei Akteuren, die pauschal eine Aufhebung der Sanktionen fordern, sollte man aber genau auf den Kontext achten. Die Sonderbeauftragte der UN für die negativen Auswirkungen der unilateralen Sanktionen Alena Douhan kommt aus Belarus, also aus einer Diktatur, die selbst keinerlei Interesse daran hat, dass Sanktionen funktionieren. Sie hat lediglich beratende Funktion bei den UN. Sie ist nicht die UN. Auch Christliche Kirchen, kirchliche Hilfswerke oder der Rote Halbmond, die zweifelsohne an der Basis wertvolle Arbeit leisten, können in Regimegebieten in Syrien nicht frei vom Einfluss des Regimes arbeiten, geschweige denn sich anderweitig artikulieren. Die Leitungsebene des Roten Halbmondes ist z.B. vom Regime kontrolliert. Hier ist es erwartbar, dass diese Akteure nichts sagen, was dem Regime zuwiderläuft.
Gefragt ist nicht eine pauschale Aufhebung der Sanktionen, sondern praktische Lösungen für das Dilemma der unbeabsichtigten Nebenwirkungen. Das Thema ist komplex und es geht sehr in technische Einzelheiten. Vor allem geht es um die Frage nach der Einbettung der Sanktionen in eine umfassende Syrien-Strategie, ohne die die Sanktionen wirkungsarm bleiben. Einen fundierten Überblick über die Debatte gibt die deutsch-syrische Solidaritätsinitiative Adopt a Revolution in einer Publikation von November 2022.
Prüfstein 7: Für wen spricht der Beitrag und kommen hier Syrerinnen und Syrer selbst zu Wort?
In der Medienberichterstattung scheinen die Syrien-Sanktionen bereits fest zu Gründen für die Humanitäre Katastrophe in Syrien zu gehören. Immer wieder werden sie ganz selbstverständlich in eine Reihe mit den Auswirkungen des von Assad begonnen Krieges gestellt. Hier gilt es, genau zu unterscheiden und den Stimmen der syrischen Zivilgesellschaft Gehör zu verschaffen. Expertise gibt es genügend und auch an Stellungnahmen zu den Sanktionen mangelt es nicht. Einige Beispiele dafür sind:
- Stellungnahme von Organisationen aus der syrischen Zivilgesellschaft zu dem Sanktionen (2020)
- Syria Justice an Accountability Center zu den Sanktionen im Kontext der Corona-Pandemie (2020)
- Statement von Organisationen und Initiativen aus der syrischen Zivilgesellschaft (2021)
- Syrians for Truth an Justice zu Alena Douhan
- Syrian Network for Human Right zu Alena Douhan
Fazit: Gut informiert bleiben und nicht auf Propaganda reinfallen!
Wie heiß es so schön: Für jedes komplizierte Problem gibt es eine einfache Lösung und die ist meistens falsch. Wichtig ist immer zu fragen, wer für wen spricht und vor allem darauf zu achten, was nicht gesagt wurde. Die oben genannten Punkte sollen nur einen Gedankenanstoß leisten und dazu motivieren, selbst zu recherchieren. Quellen sind hier entsprechend verlinkt.
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